Die Schlange aus wartenden Schnäppchenjägern vor dem von aussen recht unscheinbaren Haus in Uster (ZH) ist schon eine Dreiviertelstunde vor Einlass ziemlich lang. Unzählige Autos mit Nummerntafeln aus der ganzen Schweiz und auch einige aus Deutschland parken in der kleinen Strasse. Der Grund: Die relativ wohlhabende Besitzerin ist verstorben und hinterlässt eine grosse Menge an Kunst, antiken Möbeln und Nippes. Und all das gibts zu guten Preisen zu ergattern – dafür sorgt Herr Jürg Hoss. Seines Zeichens Nachlassliquidator – was wohl sehr weitfassend betrachtet als fancy Ausdruck für Antiquitäten- und Ramschhändler erklärt werden kann.
Vier Wochen Vorbereitungszeit
Die Nachkommen der alten Dame, die zuletzt alleine hier gelebt hatte, haben den Profi damit beauftragt, alles zu Geld zu machen, was nicht niet- und nagelfest ist. Nach gut vier Wochen Vorbereitungszeit, in denen jeder einzelne Gegenstand geschätzt und ausgepreist und das gesamte Haus geputzt und hergerichtet wurde, war es endlich so weit: Der Newsletter mit Adresse, Datum und Inventarliste ging raus. Und wenn Herr Hoss ruft, dann folgen sie alle.
Netterweise erlaubt uns der Liquidator, eine halbe Stunde vor der Türöffnung schon durch das Anwesen zu streifen, Bilder zu knipsen und uns einen Eindruck zu machen. Wir fühlen uns ein bisschen wie VIPs, die vom Türsteher einfach in den Club gewunken werden, während die «Normalos» uns neidische Blicke zuwerfen. Kaum sind wir drin und sehen uns um, merken wir – wie so oft im Leben – dass man auf Äusserlichkeiten nicht achten sollte. Das Haus ist gigantisch und von oben bis unten voller pompösem Tand!
Der Reiz des Entdeckens
Ein Eldorado für Hipster mit Affinität zu Vintage-Style und Reiche-Grosstante-Kitsch. Ölgemälde mit Pferden oder traurigen Kindern drauf, Marienstatuen, alte Schreibmaschinen, blumengemusterte Sofas, eine riesige Menge an Porzellan und eine beachtliche Anzahl an Pelzmänteln – wir sind im Paradies! «Auch immer mehr junge Leute kommen zu unseren Liquidationen, der Reiz des Entdeckens ist gross», bestätigt der Chef unsere Gedanken.
Und dann wird die Tür geöffnet. Neben vielen Profi-Händlern, die mit Kennerblick und teilweise sogar mit extra mitgebrachten Taschenlampen alle Objekte genauestens untersuchen, stürmischen Hausfrauen, die sich sofort auf die beeindruckende Handtaschensammlung der alten Lady stürzen, sehen wir tatsächlich auch ein paar Leute in unserem Alter. Der Andrang ist enorm und irgendwie überkommt uns kurz beinahe so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
Morbide Glücklichmacher
In diesen vier Wänden hat bis vor Kurzem noch jemand gelebt, auf diesen Möbeln gesessen, von diesen goldrandverzierten Tellern gegessen. Können wir dieses doch irgendwie morbide Spektakel – diesen besseren Flohmark – mit uns selbst vereinbaren? Wie geht man mit dem Hab und Gut von Verstorbenen um? Herr Hoss beruhigt uns: «Alle persönlichen Hinweise und Erinnerungsstücke wie Fotos und Briefe sind nicht mehr im Haus. Alles, was Sie hier sehen, ist Ware, die die Nachkommen nicht übernehmen wollen oder können. Wir versuchen einfach, so wenig wie möglich entsorgen zu müssen. Der Rest kommt gemeinnützigen Zwecken zugute.»
So werden all die schönen Sachen weiterverwendet und machen Menschen Freude. Irgendwie doch auch ein schöner Gedanke, finden wir. Und – wir geben es ganz ehrlich zu – es ist einfach superaufregend, so ganz offiziell durch ein fremdes Haus laufen zu dürfen, nach Herzenslust zu stöbern und sich herrliche Geschichten dazu auszumalen, wer hier wohl gelebt haben könnte.
Auf Schnäppchenjagd im Haus der toten Dame
Wer auf Vintage-Zeugs steht und bei Brockenstube und Flohmarkt den Glamour vermisst, der sollte sich mal eine Nachlassliquidation geben – so wie unsere Redaktoren.
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